Rückflug aus Marokko

Das Bild der Bordkarte von Casablanca nach Frankfurt.

16. März 2020. Fälle in Marokko: 37. Fälle in Deutschland: 6012.

Das Virus ist hier

Es tut mir Leid, aber ich muss Ihre Reservierung hiermit stornieren. Die Situation in Rabat wird immer schlimmer, die Fallzahlen steigen immer schneller an.“ Umgeben von Reinigungskräften, die die ab heute geltenden Hygienemaßnahmen durchsetzen und akribisch hinter uns den Boden schrubben, erfahren wir am Hauptbahnhof von Marrakesch, dass wir dort, wo wir gleich hinfahren, keine Unterkunft haben werden. Jetzt ist das Virus endgültig in der marokkanischen Öffentlichkeit angekommen. Die offizielle Fallzahl liegt zwar noch im moderaten Bereich, doch die Maßnahmen der letzten Tage haben bei Behörden und Privatpersonen offenbar die Alarmglocken läuten lassen. So wird selbst der Zug nach Rabat, in den wir eine Stunde später steigen, vor dem Reiseantritt gründlich gereinigt. Ein US-Amerikaner, den Tränen nahe, sitzt uns im Zug gegenüber und schwärmt von seiner Farm in den Vereinigten Staaten. Er will nach Casablanca und von dort einen Flug nach Miami ergattern. Ob es ihm gelang, haben wir nie erfahren. 

17. März 2020. Fälle in Marokko: 44. Fälle in Deutschland: 7156.

Die Botschaft meldet sich

Glücklicherweise gelingt es uns aber, bei entfernten Verwandten unterzukommen. In Temara, nahe Rabat, erfahren wir über deutsche Medien von der nun konkret geplanten Rückholaktion des Auswärtigen Amtes. Von offizieller Seite bekommen wir am frühen Nachmittag Anweisungen zum weiteren Vorgehen – im ersten Landsleutebrief. Wir sollen unser Profil in ELEFAND unter Schritt 5 um den Zusatz „COVID-19-Rückholung gewünscht“ ergänzen. 

  • Das Bild zeigt die Anweisungen des Auswärtigen Amtes.
  • Das Bild zeigt eine Mail des Auswärtigen Amtes.

Bloß: Es gibt noch keinen Schritt 5 in ELEFAND, sondern nur die vier Schritte, die wir schon am 14. März ausfüllen konnten. Versuche, das Auswärtige Amt oder die Botschaft darüber zu informieren, enden entweder in Warteschleifen oder automatisierten Antwortmails. Wir werden das Gefühl nicht los, dass selbst die Ämter keinen Plan für diese Situation haben. Zwischen 21 und 22 Uhr gibt es dann doch noch Neuigkeiten über die bei ELEFAND hinterlegten Mail-Adressen. Die ersten Rückholflüge sollen bereits am nächsten Tag von Marrakesch, Agadir und Rabat starten, weitere an den darauffolgenden Tagen. Bis auf die Registrierung bei ELEFAND sei nichts notwendig, um berücksichtigt zu werden. Also heißt es erneut – abwarten. 

  • Das Bild zeigt den öffentlichen Landsleutebrief.
  • Das Bild zeigt den öffentlichen Landsleutebrief.

18. März 2020. Fälle in Marokko: 54. Fälle in Deutschland: 8198.

In Quarantäne, bitte

Auf Ihrer Fähre von Algeciras nach Tanger am 08. März um 21 Uhr befand sich ein COVID-19-Patient. Bitte begeben Sie sich mindestens bis zum 22. März in häusliche Quarantäne.“ Drei Mal muss die Angestellte des marokkanischen Gesundheitsamtes mir am Telefon mitteilen, was los ist, ehe ich es mit meinen rudimentären Französischkenntnissen verstehe. Der Anruf kommt von einer unbekannten Nummer über WhatsApp, die knittrigen und scheinbar wahllos gestapelten Einreisekarten hatten ihren Zweck also doch erfüllt. Einer der ersten 54 COVID-19-Patienten Marokkos war auch einer der rund 30 Mitreisenden, die zehn Tage zuvor stundenlang auf die transkontinentale Fähre durch die Nacht gewartet hatten. Und somit sind wir dazu verdammt, die Rückholaktion in häuslicher Quarantäne zu verpassen. Denken wir zunächst. 

Denn um die Daten der Fähre noch einmal genau abzugleichen, rufe ich das Gesundheitsamt erneut an. Vorsichtig taste ich mich voran, um sicherzustellen, dass mein französisches Kauderwelsch auch richtig am anderen Ende ankommt. Ich erkundige mich nach den Rückholflügen und ohne den leisesten Zweifel in der Stimme versichert mir dieselbe Dame, die mich kurz zuvor in Quarantäne schickte, dass wir diese Flüge beanspruchen dürfen. Mit Maske und ohne Symptome sei es kein Problem, zum Flughafen zu reisen, um dann nach Deutschland zurückzukehren. Wir dürfen nur nicht mit der Bahn fahren, einkaufen gehen oder am Strand flanieren. Lediglich der direkte Weg zum Flughafen steht uns frei. 

Doch genau dieser Weg wird einige Stunden später um einiges länger. Am Abend des 18. März informiert uns das Auswärtige Amt per Mail darüber, dass für den nächsten Tag Marrakesch, Agadir und Casablanca als Abflugsorte vorgesehen sind. Rabat steht nicht länger auf der Liste und wir vor einem Problem. Hals über Kopf organisieren wir ein Taxi nach Casablanca für den frühen Morgen. Ab acht Uhr sollen Mitarbeiter der Botschaft vor Ort sein, um die Ausreise zu organisieren. Mit gepackten Taschen und einem Wecker für fünf Uhr morgens fällt der Schlaf schwer, nur das ferne Meeresrauschen erinnert an den Urlaub, der diese Reise wenige Tage zuvor noch gewesen war. 

Das Bild zeigt die Ankündigung einer kurzfristigen Änderung.
Eine kurzfristige Änderung der Flughäfen wird erst am Vorabend kommuniziert.

19. März 2020. Fälle in Marokko: 63. Fälle in Deutschland: 10999.

Es ist ernst

„Es ist ernst. Nehmen Sie es auch ernst.“ Angela Merkel ruft am Vortag zu Solidarität und Zusammenhalt auf. Wir bekommen das erst am darauffolgenden Morgen mit, im Taxi nach Casablanca. 

Von außen scheint der Aéroport International de Mohammed V wie ausgestorben. Innen haben sich schon einige Trauben deutscher Touristen zusammengefunden. Keiner weiß etwas, alle wollen nach Hause. Von Angestellten keine Spur. Ein Polizeibeamter informiert uns darüber, dass die deutschen Rückholflüge vom Nachbarterminal 2 abfliegen sollen. Die Wirkung dieser Neuigkeit ist enorm, und so finden wir uns am Kopf einer riesigen Menschenmenge wieder, die den Flughafen durchquert, um sich den ersten Platz in der Schlange zu sichern – die es nicht gibt.

In Terminal 2 deutet nämlich ebenso wenig darauf hin, dass hier später offizielle Rückholflüge abheben sollen, wie in Terminal 1. Bis zwei Check-In-Schalter einen Condor-Flug nach Frankfurt ausweisen, und konsequenterweise belagert werden. Unsere vielversprechende Position inmitten der Menschenmasse, die mehr als 1000 Personen aufweist, entpuppt sich wenig später als das Gegenteil. Während Botschaftsmitarbeiter in Zivil an einigen Stellen am Terminal ab zehn Uhr Ausreiseprotokolle verteilen, können wir uns kaum vom Fleck bewegen. Als dann auch die Hinweise auf einen Flug nach Frankfurt wieder verschwinden und sich die Masse verteilt, sind die Protokolle aus. Der enorme Ansturm scheint die Verantwortlichen zu überfordern.

Das erste Flugzeug hebt gegen Mittag ab, ohne dass wir wirklich etwas davon mitbekommen. Es ist kaum erkenntlich, welcher Check-In-Schalter jetzt eigentlich bedient wird, weil man durch die Menge sowieso nichts sehen kann. Die Angestellten der Botschaft versprechen noch mindestens einen Flieger, der am späten Nachmittag fliegen soll. Weil es in vier Stunden erst weitergehen soll, beginnt ein kollektives Anbrechen der geschnürten Pausenbrote und die Schlangen, die sich provisorisch vor einigen Schaltern geformt hatten, lösen sich auf.

Im Schwarm gibt es zwei Möglichkeiten, um vor dem Rest ans Ziel zu gelangen. Entweder, man befindet sich zufällig am richtigen Ort, oder man lässt Intuition und Beharrlichkeit walten. Letzteres verschafft uns zwischen zwei und drei Uhr am Nachmittag sowohl ein Protokoll, als auch einen Platz relativ weit vorn in einer der neu formierten Schlangen vor zwei, jetzt besetzen, Schaltern. Als die Abfertigung für den zweiten Flug beginnt, wird aus dieser Schlange ein stockender Strom. Mitten in der Reihe kann man sich kaum selbstbestimmt bewegen, geschweige denn die Koffer aus dem Weg räumen. Stürzen kann man auch nicht, dafür ist kein Platz. Familien und Kranke dürfen die Schlange umgehen. Weil man die Angestellten der Botschaft nur im ersten Viertel der Schlange verstehen kann, sind trotzdem einige Kinderwagen mitten im Gedränge gefangen. Ein Mangel an Solidarität, der auch in Deutschland Wochen später immer wieder öffentlich diskutiert wird, ist hier schon spürbar. Selbstgefällig rechtfertigen einige Personen ihr Drängeln mit rassistischen Äußerungen, und bekommen es nicht einmal mit. „Man sieht doch, dass die da vorne nicht in Deutschland wohnen!“ Sie fühlen sich in ihrer Freiheit bedroht, wenn man sie darauf hinweist, dass die Hautfarbe nichts über die Nationalität aussagt.  

Ganz vorn drängen immer gleich mehrere Leute in Richtung der Angestellten, die nur Einzelne davon zu sich winken. Kurz nachdem der Finger auf uns zeigt und wir unser Ausreiseprotokoll in den dafür vorgesehenen Karton werfen, stoppt der Fluss. Während vor der Barrikade beruhigte Blicke ausgetauscht wurden, warten dahinter noch genug Menschen für drei weitere Flieger. Aber wir haben unsere Tickets für einen Flug nach Frankfurt in der Hand. Jetzt kann nichts mehr passieren. Die Beruhigung lässt unsere Körper herunterfahren. Mit Kopfschmerzen schleppen wir uns zurück zum Terminal 1, von wo der Flug startet. 

„Seid ihr noch in Marokko?“

 „Also wurde die Kapazität des Flugzeugs richtig angegeben, und nur die Platznummern sind falsch?“ „Das hoffe ich.“ Um halb sechs beginnt endlich das Boarding. Beim Boarding wird mein Ticket vom Computer nicht erkannt, ich werde trotzdem durchgewunken. Das muss die letzte Hürde gewesen sein. Erleichtert betreten wir die Maschine von Condor und suchen unseren Platz in Reihe 11. Und dann das: Unsere Plätze sind bereits besetzt. Wir rufen das Personal. Ein Steward und eine Stewardess versuchen im Gedränge an Bord irgendwie den Überblick zu behalten. Sie wirken entspannt, wir haben Angst. Ich versuche ihnen eine verbindliche Zusage über unsere Mitreise zu entlocken. Als das nicht gelingt, sitze ich gedanklich schon die häusliche Quarantäne in Rabat aus. Familien, von denen es wegen der Priorisierung einige an Bord gibt, werden auseinandergesetzt, oder müssen ihre Kinder auf den Schoß nehmen. Irgendwie gelingt es der Mannschaft aber doch, in dem scheinbar überbuchten Flugzeug genug Platz für alle zu schaffen. Auch für uns.

Die Maschine hebt ab, nur noch der Kapitän spricht: „Die Welt befindet sich in einem Ausnahmezustand. In Deutschland haben Schulen geschlossen und fast die gesamte Luftfahrt setzt aus. Sie werden, neben Tausenden anderen Reisenden, aus der ganzen Welt zurückgeholt. Willkommen an Bord.“ Wir denken nichts mehr und sehnen die Landung herbei. Was zu diesem Zeitpunkt in Marokko beschlossen wird, bekommen wir erst in Frankfurt mit. Die Handys vibrieren: „Seid ihr noch in Marokko?“

Marokko hat den gesundheitlichen Notstand ausgerufen, der ab dem kommenden Tag gelten soll. Dieser beinhaltet die Blockierung des gesamten Luftraums und strenge Isolationsmaßnahmen samt Ausgangssperre. Die Maßnahmen gelten noch mindestens bis zum 10. November. Das Auswärtige Amt verlegt alle weiteren Flüge eilig auf den nächsten Tag und kann danach nur noch in absoluten Ausnahmefällen Rückholaktionen starten. Die Kontrollen zur Ausgangssperre sind streng und die Deutsche Botschaft darf keine verbindlichen Passierscheine ausstellen, lediglich unverbindliche Empfehlungen. Das sorgt für Frust, der sich hauptsächlich bei Facebook entlädt – bis heute. In den Kommentaren bei Facebook fordern zahlreiche gestrandete Menschen eine weitere Rückholaktion der Bundesregierung und berichten von ihren Erfahrungen mit den marokkanischen Behörden. Wäre bei uns nur ein klein wenig mehr schief gegangen, stünde dort jetzt auch unser Hilferuf. 

„Nein, wir sind zurück.“

Das Bild zeigt eine Facebook-Nachricht der Botschaft.
Aktuelle Informationen für gestrandete Urlauber in Marokko gibt es auf der Facebook-Seite der Botschaft.

Die jetzige Lage: Aktuell leidet Marokko noch stärker unter ansteigenden Infektionszahlen, als im März. Der gesundheitliche Notstand wurde bereits mehrmals verlängert und gilt weiterhin. Touristen dürfen das Land zwar wieder betreten, Marokko gilt aber als Corona-Risikogebiet. Alle im Text genannten Infektionszahlen beziehen sich auf die offiziell gemeldeten Infektionen und können je nach Quelle (Robert Koch-Institut, Thomas Hopkins University, Ministère de la Santé) geringfügig abweichen.