Rückflug aus Marokko

Das Bild der Bordkarte von Casablanca nach Frankfurt.

Hunderttausende Urlauber*innen holte das Auswärtige Amt zu Beginn der Corona-Pandemie zurück. Auch in Marokko warteten Tourist*innen stundenlang auf die knappen Plätze an Bord der Maschinen. Unser Autor war einer von ihnen.  

06. März 2020. Fälle in Marokko: 2. Fälle in Deutschland: 534.

In die Sicherheit

Der Plan: Wir wollen ohne umweltschädliche Flüge nach Nordafrika reisen. Aber geht das trotz Corona? Natürlich sind Zweifel da. Was, wenn Spanien einen Lockdown verhängt? Wenn das Virus in Marokko ausbricht? Aber in Frankreich, Deutschland und Spanien liegen die Fallzahlen bei jeweils knapp 600 Infektionen, ein unkontrollierter Ausbruch erscheint uns unwahrscheinlich. Und warum sollte uns ausgerechnet eine Strecke, die wir theoretisch auch zu Fuß zurücklegen könnten – ganz abgesehen von der kurzen Überfahrt mit der Fähre – versperrt werden? Eher unbekümmert steigen wir am 6. März in Berlin in den Zug und reisen über Paris und Madrid an die spanische Küste. 

08. März 2020. Fälle in Marokko: 2. Fälle in Deutschland: 847.

Grenzkontrolle: Fiebermessen

Dort angekommen ist die Welt für meine Freundin und mich noch völlig in Ordnung. Vom spanischen Küstenort Algeciras reisen an diesem 08. März gut 30 Passagier*innen in die marokkanische Hafenstadt Tanger. Stark verspätet legt die FRS-Fähre kurz vor Mitternacht ab. Neben einem Fieberthermometer, das auf der Schiffsrampe jedem*r Reisenden*r vor die Stirn gehalten wird, lassen sonst nur die knittrigen Einreisekarten, die jeder ausfüllen muss, erahnen, dass irgendetwas anders ist. „Waren Sie in China oder Italien?“ „Nein.“ Wenn ich genau hinschaue, erkenne ich Skepsis im Umgang der Menschen miteinander. Mein Blick forscht unterbewusst nach sichtbaren Symptomen, bis ich mich dabei ertappe. Den Rest der nächtlichen Überfahrt verbringe ich mit geschlossen Augen auf einer zu kleinen Bank, bis uns die Fähre am anderen Ufer der Straße von Gibraltar ausspuckt. In der vermeintlichen Sicherheit.

Das Bild einer Einreisekarte.
Die Einreisekarte dient der Erfassung und Nachverfolgung von Infektionsketten.

Und tatsächlich: Die Situation in Marokko ist nicht anders als zuvor in Deutschland, eher sogar entspannter. Die ersten Urlaubstage verbringen wir in Tanger und Casablanca mit Sehenswürdigkeiten, dem Meer und marokkanischen Teigwaren. Wir buchen eine Tour, die uns am 15. März von Marrakesch bis in die Königsstadt und Wüstenmetropole Fès bringen soll. Von dort wollen wir wieder mit dem Zug zurück an die Küste fahren.

Wir erreichen den Küstenort Essaouira drei Tage später. Das rege Treiben in den kleinen Gassen, die streunenden Katzen und die brodelnd heißen Tajines, Schmorgerichte in Lehmgefäßen, die in jedem Restaurant frisch serviert werden, suggerieren uns idyllische Urlaubsnormalität. Wir sind uns sicher: Es war die richtige Entscheidung, in ein EU-Nachbarland zu reisen, das kaum vom Coronavirus betroffen ist. 

13. März 2020. Fälle in Marokko: 8. Fälle in Deutschland: 3062.

„Das wissen wir auch nicht“

Auf der Dachterrasse unserer Pension in Essaouira treffen wir zwei Tage später zwei Kanadier*innen, die uns von ihrer bevorstehenden Rückreise berichten. Wegen der Maßnahmen in ihrem Heimatland entscheiden sie sich für den Abbruch ihrer Reise – sie wollen schnellstmöglich zurückfliegen. Wir berichten von dem, was wir aus Deutschland mitbekommen. Von geschlossenen Schulen, von einer abgebrochenen Rückrunde der Fußball-Bundesliga. Wenn „the Germans“ freiwillig auf ihren Fußball verzichten – dann muss es wohl ernst sein, witzeln wir. Alle lachen. Wir dippen den Rest unserer Beghrir, marokkanische Pfannkuchen mit schwammiger Konsistenz, in die Konfitüre irgendeiner hellen Frucht. Fünf Minuten später beginnt unsere Odyssee. 

Marokko setzt alle Flüge und Fährverbindungen nach und von Spanien aus“. Die Zeile auf dem englischsprachigen Newsportal Morocco World News nimmt uns schlagartig die gute Laune. Um sich vor den mittlerweile über 3000 Fällen in Spanien zu schützen, hat die marokkanische Regierung entschieden, die Grenze zu schließen. Und uns wird in diesem Moment bewusst, dass weitere Maßnahmen der Regierung uns genauso unerwartet treffen können. Niemand wird uns im Vorhinein informieren, wann wir spätestens das Land zu verlassen haben – nicht in dieser Ausnahmesituation. Also rufen wir bei der Deutschen Botschaft in Rabat an, kommen auch direkt durch.

Die Maßnahme gilt erst einmal bis zum 30. März. Ob sie dann aber wirklich aufgehoben wird, das wissen wir auch nichtBuchen Sie so schnell wie möglich einen Flug nach Deutschland.“

Der Rat der Botschaft ist eindeutig, wir nehmen ihn ernst. Wir suchen nach Flügen, doch die sind fast alle ausgebucht. Unsere Unruhe überträgt sich auf das Personal der Pension, in deren Lobby wir den Platz mit der besten Internetverbindung besetzen. Schließlich finden wir noch einen Flug: Am 15. März mit Lufthansa von Marrakesch nach Frankfurt – 350 € pro Person – egal. Wir versuchen erstmal abzuschalten. Die dreistündige Busfahrt von Essaouira nach Marrakesch vergeht schnell. Als wir am Abend die Koffer durch die Medina ziehen, halten einige Kinder uns europäische Touristen offensichtlich für Importeure des Virus. Sie lassen es uns mit lauten Corona-Rufen wissen, zeigen auf uns, laufen weg. Das Virus ist hier – und wir dürfen nicht weg. 

14. März 2020. Fälle in Marokko: 18. Fälle in Deutschland: 3795.

Raus aus Marrakesch

Spanien verhängt den Lockdown. Wir erfahren davon auf einer Dachterrasse mit Blick über die Medina, ausgerechnet von einer deutschsprachigen Bedienung. Die Nachricht nimmt uns jede noch so kleine und naive Hoffnung auf eine Überfahrt zum europäischen Festland. Am gleichen Tag schließt Marokko die Grenzen zu allen anderen Staaten der Europäischen Union, was unseren just gebuchten Flug ebenfalls unmöglich macht. Und in Berlin schließen die Klubs.

Mitten in der Medina von Marrakesch wird uns bewusst, dass wir uns wohl oder übel auf einen längeren Aufenthalt in Marokko einstellen müssen. Das Auswärtige Amt bietet dafür eine Krisenvorsorgeliste mit dem Namen ELEFAND an, in die wir uns eintragen. Um uns für diese unabsehbare Zeit aus dem erdrückenden Trubel der Altstadt zu befreien, buchen wir eine Wohnung in Rabat, der Hauptstadt Marokkos, beruhigend nah an der Deutschen Botschaft. 

  • Das Bild zeigt die Eingabe der persönlichen Angaben.
  • In diesem Bild werden der Aufenthaltsort und die Kontaktdaten eingegeben.
  • Das Bild zeigt die Eingaben der Aufenthaltsdauer.
  • Das Bild zeigt die Angabe von begleitenden Personen.
  • Das Bild zeigt die Angabe einer Kontaktperson in Deutschland.
  • Das Bild zeigt die Angabe zur Krankenversicherung.

15. März 2020. Fälle in Marokko: 28. Fälle in Deutschland: 4838.

Wenn der Imam hustet

Bevor der mittlerweile rituelle Blick auf das Smartphone irgendetwas Neues über das Coronavirus verraten kann, weckt uns der Imam, der schon um 6 Uhr morgens zum ersten Gebet ansetzt. Blecherne Rufe hallen durch die offenen Fenster und werden nur von einem kurzen Husten des sonst so stimmgewaltigen Imams unterbrochen. Die sakrale Atemwegsbefreiung lässt uns kurz schmunzeln – und für einige weitere Stunden weiterschlafen. Eigentlich hätte heute unser Flug nach Frankfurt gehen sollen. Doch wir wurden automatisch umgebucht; auf einen anderen Flieger, der längst auch schon wieder gecancelt wurde. 

In Deutschland berichtet die Tagesschau jetzt über Touristen, die im Ausland feststecken. Die einfachen Rückhol-Operationen sollen den Anfang machen, also nahe Länder wie Marokko. Wir sind skeptisch und nicht allzu zuversichtlich. Die ganze Krise in einer schönen Wohnung in Rabat aussitzen zu können, scheint uns eine realistische Aussicht. Und so schlecht ist sie ja nicht – also halten wir an ihr fest – mit einer Hand jedenfalls. Mit der anderen halten wir frischen Orangensaft für umgerechnet 40 Cent, wie so oft auf dieser Reise.