Tanzen ist eine Kunstgattung, bei der sich die Darsteller*innen oft sehr nahekommen. Dass man aber auch auf Distanz gemeinsam tanzen kann, bewies das Hamburger Ballett John Neumeier bei seiner Spielzeiteröffnung. John Neumeiers „Ghost Light“ feierte am 06. September Premiere und nahm das Publikum mit in einen Reigen aus Bildern und Musik.
Dieses Ballett war nicht geplant, eigentlich hätte es „Ghost Light“ gar nicht geben sollen. Aber es wollte choreografiert werden, sagt John Neumeier, als er das Publikum in der Hamburger Staatsoper begrüßt. Das Ensemble habe ihn in bei seinen Proben in Kleingruppen dazu inspiriert, erklärt er. Das Ballett dreht sich um die Tänzer*innen, ihre Gefühle und Erlebnisse während des Lockdowns, während Corona. „Ghost Light“ hat keine stringente Handlung, vielmehr wechseln sich die Tänzer*innen in kleinen Gruppen auf der Bühne ab, in verschiedenen dynamischen Übergängen. Die einzelnen Gruppen tanzen mal in Stille, überwiegend aber zu verschiedenen Klavierkonzerten von Franz Schubert.
Wie wichtig neben dem Tanz auch die Musik ist, zeigt sich dabei immer wieder. Besonders dann, wenn einzelne Tänzer oder Tänzerinnen pausieren und sich an die Bühnenkante setzten, um Michal Bialks Klavierspiel zu lauschen. Seine Interpretationen der Schubert-Stücke bilden einerseits eine Basis für die Tänze, andererseits werden sie dadurch ergänzt und verweben sich mit den Bewegungen der Tänzer*innen zu einem eleganten, komplexen Ganzen.
Zu Beginn von Ghost Light kommt Anna Laudere auf die nur spärlich beleuchtete Bühne, in völliger Stille. Sie tanzt und eilt an den Bühnenrand, wo sie zunächst zuckend, vielleicht schluchzend, nach vorne sinkt. Schließlich läuft sie wieder nach hinten, wo sie sich verzweifelt oder erschöpft gegen eine Wand lehnt. Dann gesellen sich weitere Tänzer*innen dazu. Nach einigen Minuten des Tanzens in Stille schlägt der Solopianist, Michal Bialk, die ersten Tasten an und lässt Schubert erklingen.
Für alle, mit allen
In die verschiedenen, ineinanderfließenden Elemente der Choreografie lassen sich vielfältige Emotionen hineininterpretieren. Von Lethargie nach dem Lockdown, Einsamkeit und Verzweiflung bis hin zu sprunghafter Energiegeladenheit, Freude und Scherzen scheint alles dabei zu sein. Vielleicht zeigen sich auch einige neue Hobbys, die die Tänzer*innen – oder auch das Publikum – in diesen Zeiten für sich entdeckt haben, seien es joggen oder Musik hören.
Auch Liebe und Beziehungen werden thematisiert. Denn diejenigen aus dem Ensemble, die Lebens- oder Ehepartner sind, dürfen zusammen tanzen. Diese Pas de Deux sind mal von Witz oder intimer Zärtlichkeit geprägt. Mal wirkt es, als würden die Partner*innen eigentlich fliehen wollen. Einige der anderen Tänze wahren zwar Distanz, haben aber dennoch einen nahen und warmen Charakter, wodurch der Eindruck eines Pas de Deux entsteht, dass auch ohne Berührungen auskommt und ergreifend ist.
Durch die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten der Darstellungen findet sich auch das Publikum in den Szenen wieder, zwischendurch schmunzelnd oder an eigene Erlebnisse erinnert.
Ein Licht für die Geister
Der Titel des Stückes beruht auf einer Theatertradition, deren Ursprung mehrere Jahrhunderte zurückliegt. Nach Ende der Proben oder Vorstellungen wird ein einzelnes Licht auf die Bühne gestellt, dass die ganze Nacht hindurch brennt, das Ghost Light. Einerseits ist dieses Licht der eindeutige Hinweis, dass die Bühne nicht mehr betreten werden darf, andererseits können in seinem Schein die Geister der früheren Darsteller*innen nun mit ihren Aufführungen fortfahren.
Diesem Gedanken entsprechend ist das Bühnenbild sehr schlicht gehalten. Eine einzelne Glühbirne steht auf einem Stab. Zwischendurch tragen Tänzer*innen drei Stühle auf die Bühne, sodass mit und um diese getanzt wird. Im Hintergrund steht zudem eine Wand, auf der immer wieder eine Art Schattentanz zu sehen ist. Mal sind die Tänzer*innen dort sehr unterschiedlich groß zu sehen, mal zeigen die Schatten eine Nähe, die so nicht zwischen den Tänzer*innen besteht oder Sehnsucht, die die der Paare auf der Bühne verstärkt beziehungsweise verdeutlicht.
Die Kostüme passen sich der Schlichtheit aber auch den Geistern alter Stücke an. Einige der Tänzer*innen tragen Trainingskleidung, andere schlichte Kleider oder Anzüge. Dennoch treten immer wieder Figuren und Kostüme aus anderen Stücken auf. So etwa die junge Marie aus dem „Nussknacker“, die diesen mit sich auf die Bühne nimmt und kurz mit ihrem Nussknacker in Menschengestalt tanzt.
Fazit
Auch wenn Nähe etwas ist, was man während der Corona-Pandemie nur eingeschränkt erlebt, zeigt das Hamburg Ballett John Neumeier eindrucksvoll, dass Tanzen und auch Nähe trotzdem möglich sind – wenn nicht gar notwendig. „Ghost Light“ verdeutlicht das Gemeinschaft auch mit wenig Berührungen und trotz Distanz möglich ist und Zusammenhalt funktioniert. Durch die Präsenz der Geister alter Stücke schafft das Ballett zudem eine Verbindung in eine Prä-Corona-Zeit und erweckt die Hoffnung, dass es irgendwann wieder möglich ist, durch und mit der Kraft von Musik und Tanz, anderen nahe zu sein und gemeinsam zu tanzen oder sich den Tanz anderer in einem vollen Opernhaus anzusehen.
Die Informationen gebündelt
Choreograf | John Neumeier |
Tänzer*innen | Ensemble des Hamburg Ballett John Neumeier |
Musik | Michal Bialk |
Weitere Informationen findet ihr hier.