In der Staatsoper Hamburg wurde die neue Spielzeit eröffnet. Mit „molto agitato“ feierte Frank Castorf sein Regiedebüt am Haus und eine Premiere, die sich in Besetzung und Ausführung an die neuen Abstandsregeln anpasst.
Kaum sind die Lichter im Saal seit langer Zeit wieder vollständig gedimmt, eröffnet Georg Friedrich Händels „Ankunft der Königin von Saba“ (HWV 67) den Opernabend Eine junge Frau schwenkt die amerikanische Flagge, auf einer Leinwand über der Bühne wird Text eingeblendet. Nach und nach kommen weitere Menschen hinzu, unter anderem ein stark tätowierter Mann. Nachdem die Flagge weggelehnt wird und sich ihre Trägerin darin eingewickelt hat, folgt „Nouvelles Aventures“. Bei diesen Lautkompositionen des österreich-ungarischen Komponisten György Ligeti wird eine kleines Ensemble Musiker durch die beweglichen Bühnenelemente auf die selbige gefahren, vor ihnen stehen zwei Sängerinnen und ein Sänger, die verschiedene Buchstaben auf sehr unterschiedliche Arten singen. Dabei entstehen zum Teil irritierende, unmelodische Klangfetzen, die aber hin und wieder eine harmonische Melodie andeuten. Neben dem Bühnenspektakel läuft auf der Leinwand ein Film, in dem sich Liveübertragungen der Sänger*innen und Skizzen des Duschmordes aus Alfred Hitchcocks Werk „Psycho“ abwechseln.
Ein Potpourri der Künste
Irgendwann betritt ein Mann im Anzug die Bühne. Er trägt eine Art Steampunk-Pestmaske, erst vor dem Gesicht, dann ähnlich einer Narrenkappe auf dem Kopf. Er liest zunächst Zeitung und läuft damit von seinem Sitzplatz am hinteren Ende der Bühne nach vorne. Die drei Künstler*innen, die die Lautkompositionen präsentieren, zerschlagen seine Zeitung schließlich. Er weint zunächst, beginnt dann aber zu singen. Er singt von Liebe und einem jungen Paar, es sind die „Vier Gesänge“, Opus 43 von Johannes Brahms. Während es noch singt, kommt die junge Frau mit ihrer Armerikaflagge nach vorne auf die Bühne und scheint mit dem Fahnenstil mit dem Sänger zu kämpfen. Dies kennzeichnet den Übergang zu Szenen, die aus Quentin Tarantinos erstem Film, „Reservoir Dogs“ stammen und sowohl als Schauspiel auf der Bühne als auch als Filmsequenz gezeigt werden. Als Video zuerst das Original in stumm und mit Gesang, dann die nachgedrehte Szene mit Ton.
Der gewählte Ausschnitt dreht sich einerseits um die Bedeutung des Songs „Like a Virgin“ und andererseits um eine Szene, in der jemand gefoltert wird. Tarantinos Film handelt insgesamt von einem Raubüberfall, der schief geht.
Hiernach folgen Ausschnitte aus Händels „Galatea e Polifemo“ (HWV 72). Die Geschichte wird nicht nur gesungen, auf der Leinwand über der Bühne wird die Geschichte in einem gezeichneten Film dargestellt.
Die sieben Todsünden
Dann wechselt das Geschehen wieder zu einem Interview, das Quentin Tarantino einst gab und das nun noch einmal von einer der Sängerinnen in Auszügen erzählt wird, danach folgt erneut der Wechsel zur Handlung des Filmes „Reservoir Dogs“.
Das letzte Element dieses Opernabends bilden „Die sieben Todsünden“, die letzte Zusammenarbeit von Kurt Weil und Berthold Brecht. Die junge, schizophrene Anna wird von ihrer Familie aus Louisiana fortgeschickt, um Geld für den Bau eines Hauses zu verdienen. Anna zieht sieben Jahre durch Amerika und erlebt alle sieben Todsünden. Annas zwei Persönlichkeiten, Anna I und Anna II werden dabei von der Schauspielerin Valery Tscheplanowa gespielt, ihre bigott wirkende Familie durch die vier anderen Darsteller*innen.
Technisch interessant, musikalisch sehr gut
Während des gesamten Abends werden die Sänger*innen immer wieder von Kameras aufgenommen, ihre Bewegungen, die singenden Münder, Mimik und Gesten werden auf die Leinwand über der Bühne projiziert. Das vermittelt einen ganz anderen Eindruck von Gesang und Schauspiel, da man den Darsteller*innen viel näher schein, da man die genauen Bewegungen etwa der Lippen genau sehen kann. Die Liveübertragung ermöglicht es dem Publikum, möglichst viel der Vorführung mitzuerleben, denn das Ensemble nutzt die gesamte Bühnenlänge für die Darbietung. Das schafft einen gewaltigen Eindruck zur Tiefe des Raums, verhindert aber, dass die Zuschauer*innen jedes Detail sehen können. Insgesamt ist die Nutzung von Kamera und Leinwand ein bereichernder Aspekt dieses Opernabends.
Die musikalische Gestaltung von „molto agitato“ überzeugt ebenfalls. Auch wenn das Philharmonische Staatsorchester Hamburg in kleinerer Besetzung spielt als üblich, erklingt die Musik unter der Leitung von Kent Nagano sehr gut, ebenso wie der Gesang der fünf Darsteller*innen.
Fazit
Sowohl die technische als auch die musikalische Ausführung können „molto agitato“ zu einem interessanten und spannenden Opernerlebnis machen. Allerdings ist es unbedingt ratsam sich vor der Vorstellung das Programmheft durchzulesen. Doch auch damit bleibt das Publikum nach Ende der zweistündigen Darbietung verwirrt zurück. Denn die verschiedenen Stücke erscheinen auf den ersten Blick wie eine Aneinanderreihung einzelner Elemente. Erst nach mehrfacher Betrachtung und mit einem gewissen zeitlichen Abstand fallen Gemeinsamkeiten der einzelnen Szenen auf. Liebe, Treue und Eifersucht sind Themen in den meisten Stücken. Mit der Verwirrung und Irritation, die „molto agitato“ hinterlässt, macht es seinem Namen jedoch alle Ehre. Denn agitato steht als musikalische Vorgabe unter anderem für bewegt, und die Gedanken drehen sich gewiss noch länger um diese Inszenierung.
Die Informationen gebündelt
Inszenierung | Frank Castorf |
Musikalische Leitung | Kent Nagano |
Bühnenbild | Aleksandar Denic |
Kostüme | Adriana Braga Peretzki |
Licht | Lothar Baumgarte |
Video | Andreas Deinert, Severin Renke, Kathrin Krottenthaler |
Dramaturgie | Johannes Blum |
Darsteller*innen | Katharina Konradi (Sopran), Jana Kurucova (Mezzosopran), Valery Tscheplanowa (Schauspielerin), Matthias Klink (Tenor), Georg Nigl (Bariton) |
Orchester | Philharmonisches Staatsorchester Hamburg |
Weitere Vorstellungen | 08.09.2020, 19:30 Uhr 12.09.2020, 19:30 Uhr 15.09.2020, 19:30 Uhr 21.09.2020, 19:30 Uhr 23.09.2020, 19:30 Uhr 26.09.2020, 19:30 Uhr |
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