Stille Opfer der Gewalt

Die Statistik zeigt: Gewalttaten in Deutschland nehmen zu, Anzeige bei der Polizei erstatten aber die wenigsten. In Frauenhäusern machen Frauen mit Migrationshintergrund den größten Anteil aus, sind sie also am meisten gefährdet?

von Ekaterina Ragozina und Anastasia Klimovskaya

Im November 2019 kursierte in den Medien eine Geschichte aus dem Ort Preetz, südöstlich von Kiel: Ein 25-jähriger Ex-Soldat und abgelehnter Asylbewerber, der Anfang April 2019 seine Freundin mit 37 Messerstichen tötete, wurde vom Gericht für schuldunfähig erklärt, weil er zur Tatzeit einen Schub einer paranoiden Schizophrenie erlitt. Nun muss der Täter dauerhaft in die geschlossene Psychiatrie. Doch am meisten schockiert bei dieser Geschichte ein ganz anderer Umstand: Das Opfer – eine Mutter von zwei Kindern – wurde vom Täter bedroht und hat sich nicht an die Polizei gewandt.

Die statistischen Daten des Bundeskriminalamtes zeigen, die Zahl der Partnerschaftsgewalt steigt bundesweit jedes Jahr. Noch 2016 waren 133 000 Menschen von der Gewalt in einer Partnerschaft in Deutschland betroffen, im letzten Berichtsjahr 2018 waren es schon 140 000 darunter 324 Tötungsdelikte.

Sind Migrantinnen am meisten gefährdet?

Die Zahl der Gewaltdelikte, bei denen ein oder beide Partner einen Migrationshintergrund haben, wird vom Kriminalamt nicht gesondert erfasst. Jedoch kann man das Ausmaß des Problems am Beispiel der deutschen Frauenhäuser sehen. Die Bewohnerinnen-Statistik der  Frauenhauskoordinierung e.V. aus dem Jahr 2018 zeigt, dass 71,6 Prozent der Frauen, die das Unterstützungsangebot in Anspruch genommen haben,  einen Migrationshintergrund haben. An der Spitze dieser Statistik stehen Opfer aus Syrien (13,2% von Frauen mit nicht deutscher Herkunft), der Türkei (7,2%) und Afghanistan (6,1%). Gefolgt werden sie in dieser Statistik von ebenfalls sehr patriarchalen osteuropäischen Ländern: Russland, Kosovo, Polen, Rumänien und Serbien.

Monika Schröttle von der Technischen Universität Dortmund hat zahlreiche Forschungsprojekte zum Thema „Häusliche Gewalt“ durchgeführt. Im Gespräch erklärte sie: „ Frauen mit Migrationshintergrund haben ein höheres Risiko, Gewalt zu erfahren. Unsere Studien zeigen, dass der Grund dafür häufiger nicht der kulturelle Hintergrund ist, sondern die Schwierigkeit, schnell das Problem zu lösen und an die Hilfe zu kommen“. In ihrer Expertise zum Gleichstellungsbericht der Bundesregierung 2017 erwähnt Schröttle, dass nur 16% aller Fälle von häuslicher Gewalt bei der Polizei angezeigt werden.

Ich verbrachte 3 Tage im Frauenhaus – er bombardierte mich mit Liebeserklärungen. Dass ich es geglaubt habe, war ein großer Fehler“

Ella

Ähnlich erging es Ella, die ihren richtigen Namen hier nicht lesen möchte. Vor der Hochzeit lebte sie auf der Krim. Über das Internet hat sie ihren Mann kennengelernt. Der scheinbar galante Deutsche besuchte sie oft in ihrer Heimat, sie verliebten sich und nach einem Jahr der Fernbeziehung wurde sie schwanger. Daraufhin zog Ella nach Hamburg, in die Heimatstadt ihres zukünftigen Ehemannes. Die Probleme in der Beziehung kamen sofort nach der Geburt ihrer gemeinsamen Tochter, erinnert sie sich.

 „Er unterdrückte mich ständig, erniedrigte mich und schlug mich. Er hat alle meine sozialen Kontakte abgebaut, ich befand mich in der totalen Isolation.” Alles geschah vor dem Hintergrund ihres instabilen körperlichen und geistigen Zustandes: „Die Geburt war schwierig. Ich habe viel Blut verloren, bekam Anämie und schwere hormonelle Störungen. Außerdem war die Anpassung im fremden Land sehr schwer für mich. Ich beherrschte die Sprache nicht, hatte keine Freunde oder Familie dabei. In unseren Konflikten waren alle auf seiner Seite: seine Eltern, Kollegen und Freunde. Er hat alle überzeugt, dass ich verrückt sei, und alle haben mich für eine schlechte Mutter gehalten. Nur der Glaube an Gott und die Verantwortung für die Zukunft meiner Tochter haben mich davon abgehalten, mich umzubringen”.

Eines Tages nahm Ella ihren ganzen Mut zusammen und flüchtete in ein Frauenhaus. Sie erinnert sich: „Sofort bombardierte mich mein Mann mit Liebeserklärungen. Seine Familie schickte mir unzählige SMS mit Entschuldigungen. Dass ich es geglaubt habe, war der große Fehler.“

Sie blieb mit ihrer kleinen Tochter nur drei Tage im Frauenhaus. Obwohl alle Mitarbeiter*innen versuchten sie zu überzeugen nicht zu ihrem gewalttätigen Mann zurückzukehren. Sie hatten Recht: Kurz nach der Rückkehr begann alles von vorne. Ellas Entschluss ist kein Einzelfall.Die Statistik der Frauenhauskoordinierung e. V. zeigt, dass die Mehrheit der Opfer zurück in die Wohnung zu ihrem Gewalttäter kehren.

Ellas Versuch, die Ehe trotz des Vorfalls weiterzuführen, endete nach zwei Jahren. Zusammen mit ihrer Tochter ist sie in eine neue Wohnung gezogen. Diese Entscheidung traf sie allerdings zu spät. Ihr psychischer Zustand verschlimmerte sich durch das erlebte Trauma: Sie leidet unter Schlaflosigkeit und Panikattacken, die sie dazu zwingen, Antidepressive einzunehmen.

Warum schweigen die Opfer?

In gewaltsamen Partnerschaften können aber auch andere Motive eine Rolle spielen. Menschen mit Migrationshintergrund stehen vor weit größeren Herausforderungen, wie zum Beispiel drohender Abschiebungsgefahr, komplexen aufenthaltsrechtlichen Problemen oder finanziellen Notlagen. Die Trennung vom Ehepartner, der sich aggressiv oder gewaltätig verhält, kann nach dem Aufenthaltsgesetz zu einer Abschiebung führen, wenn die Ehe weniger als drei Jahre gedauert hat.

Die Mitarbeiter*innen der Hamburger Beratungsstelle „LALE”, die Opfer häuslicher Gewalt unterstützen und vertreten, erklären, dass einige Opfer von den eigenen Eltern unterdrückt oder von den Ehegatten bedroht würden. Die Frauen ohne festen Aufenthaltsstatus in Deutschland hätten Angst, dass sie die Kinder, die direkt nach dem Umzug geboren wurden, verlieren könnten.

Mangelhafte Sprachkenntnisse können ebenfalls eine Rolle spielen.  „Einige Opfer haben Angst, sich überhaupt alleinstehend durch die Stadt zu bewegen“, erzählen die Beraterinnen. „Manche Frauen werden sehr stark kontrolliert. Es geht so weit, dass sie ihre Wohnung nicht verlassen können. Diese Frauen haben keine Chance, dass sie überhaupt irgendwie einen Kontakt mit den Unterstützern aufbauen können. Diese Frauen haben eigentlich sehr wenige Möglichkeiten, sich ausreichend über die Schutzmaßnahmen zu informieren“.

Ella hat sich nicht an die Polizei gewandt. Hätte sie das getan, könnte sie nicht nur geschützt werden, sondern auch alle notwendigen Informationen zum zivilrechtlichen Schutzverfahren bekommen. Die Polizei könnte sogar ohne Anzeige den Aggressor aus der Wohnung verweisen.

Auch wenn das deutsche Hilfssystem ein großes Spektrum an Unterstützungsangeboten für von Gewalt betroffene Migrant*innen bietet, darf man die psychologische Aspekte des Schweigens nicht unterschätzen. Rita Süssmuth, deutsche Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit von 1985 bis 1988 hat einmal gesagt: „Gewalt ist Analphabetentum der Seele.“ Und das betrifft nicht nur die Gewalttäter, sondern auch die Opfer selbst.