Die Europäische Union hat es nicht immer leicht. Auch heute nicht. Gestritten wird wieder einmal mehr um geschlossene Grenzen und Geld. Wie lange hält das europäische Gruppenprojekt noch durch?
„Europa lebt Solidarität“ – das ist das diesjährige Motto des Europatages, der seit einer Woche gefeiert wird. Natürlich geht das wegen der aktuell geltenden Kontaktbeschränkungen nur virtuell. Sämtliche Veranstaltungen sind ins Netz verlagert worden.
Vermutung am Rande: Feierlaune wäre in diesem Jahr sowieso nicht aufgekommen. Da hätten auch Straßenfeste, wie sie mancherorts zu Ehren der Wirtschafts-, pardon WERTEgemeinschaft, abgehalten werden, nichts geändert. Den meisten von uns wird der Begriff „Europatag“ vermutlich nicht einmal mehr ein Begriff sein. Worum gingt es da gleich noch mal? Richtig: Um das, was die EU im Innersten zusammenhält, also Werte wie Solidarität, Freiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralität, Menschenrechte und -würde. Es ist schon etwas länger her, dass man sich darauf geeinigt und diese guten Vorsätze auf einem Blatt Papier verewigt hat.
Wie so oft kommt diesen Vorsätzen dann doch irgendwann das Leben in die Quere. Für die Europäische Union bedeutete das Euro-Krise, die große Anzahl an Geflüchteten, Rechtsruck und Nationalismus. Jetzt kommt auch noch Corona dazu. Ein Teufelskreis.
Wie damals in der Schule…
Mich erinnert die Europäische Union häufig an diese Gruppenreferate und ihre klassische Arbeitsteilung aus Schulzeiten. Da gab es den Macher, der von der Unschlagbarkeit seines Teams überzeugt ist und am Ende feststellen muss, dass das Gruppenleiterdasein doch nicht so einfach ist. „Wir schaffen das“, hieß es 2015 aus Deutschland. Vielen stellte sich damals die Frage nach dem Wie. Gedanken daran verschwendeten die Wenigsten. Warum auch? Gruppenleiter Deutschland würde es schon richten.
Wie, ist jedoch auch dem Gruppenleiter oft schleierhaft. Vor allem dann, wenn Gruppenmitglied Nummer Zwei, vom Arbeitsaufwand überfordert, am Boden liegt. Als italienische Hilferufe 2015 in den Norden hallten, hagelte es Wortgefechte und Appelle, Grenzen wurden geschlossen, nur manche boten bescheidene Hilfen an. Und die Geschichte wiederholt sich. Fünf Jahre später ruft Italien wieder, diesmal geht es um finanzielle Hilfen im Kampf gegen Staatsverschuldung und Corona. Corona-Bonds hat der Gruppenleiter diesmal allerdings verhindert.

Ein weiterer Klassiker aus der Schulzeit: Bluffer – Gruppenmitglieder, die vorgeben, alles liefe nach Plan. In Wirklichkeit interessiert sie das eigentliche Thema so wenig, dass sie anfangen, mit komplett neuen Ansätzen zu experimentieren. In der europäischen Gruppenarbeit wären das Polen und Ungarn. Maximen wie Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Pressefreiheit waren ihnen offensichtlich zu langweilig. Man könnte es ja mal mit Pluralität probieren. Und so mischen nun auch noch zwei angehende Diktaturen das europäische Chaos auf.
Schließlich gibt es noch die Kandidaten, die schon seit geraumer Zeit von dem Theater genervt sind und kurzerhand beschließen, die Gruppe hängen zu lassen. Sobald Gruppenmitglied Nummer Vier seinen Entschluss verkündet, bricht erneut Chaos los. Es folgen (Streit-) Gespräche, es wird verhandelt, gebettelt und gefleht. In der Schule bleibt es meistens nur bei einer Austrittsdrohung. Aber wie schaut es bei der EU aus? Großbritannien ist hier der Kandidat der Stunde. Ob sich das Land nun wirklich von der EU lösen kann? Es bleibt weiter spannend.
Und so lebt Europa die Solidarität – auf seine Art. In einer Zeit, in der Grenzen wieder schließen, der Nationalismus wieder Konjunktur erlebt, klingt das Motto der EU-Kommission für den diesjährigen Europatag hohl. Von Gruppenarbeit kann jetzt keine Rede mehr sein. Verhandlungen über Grenzöffnungen, Corona-Bonds und die europäische Wirtschaft finden zwar noch statt. Mit moralischen Werten hat das aber wenig zu tun. Womöglich ist das genau die Lehre, die wir aus dem ganzen Schlamassel ziehen: Europa muss seine moralische Insolvenz, wie sie der kürzlich verstorbene Norbert Blüm bereits vor zwei Jahren bemerkte, endlich anerkennen.
Vielleicht sollte Europa einfach mal von dem Grundsatz loskommen, solidarisch zu sein. Der Anspruch scheint etwas hoch. Die Gruppenarbeit kann trotzdem weitergehen. Das tut sie in der Schule bis zur Ergebnispräsentation schließlich auch. The Show must go on! Irgendwie. Vielleicht wäre das ein passenderes Motto für den diesjährigen Europatag gewesen.
Zum Europatag: Eigentlich besteht der Europatag aus zwei Tagen. Deshalb dauern die Feierlichkeiten auch eine Woche. Der 05. Mai erinnert an die Gründung des Europarates. Vier Tage später, am 09. Mai, wird der Schuman-Erklärung gedacht. Heute vor 70 Jahren hielt der französische Außenminister Robert Schuman eine Rede, in der er seine Vision eines friedvollen und vereinigten Europas präsentierte. Sein Vorschlag, die Kohle- und Stahlproduktion von einer übergeordneten Institution verwalten zu lassen, gilt als Grundstein der Europäischen Union. In der ersten Maiwoche finden jährlich Veranstaltungen, Diskussionen und Führungen in Brüssel und Straßburg, aber auch weltweit statt. Dieses Jahr mussten die Feierlichkeiten wegen der globalen Corona-Pandemie online abgehalten werden.