gelesen: Nellie Bly

“I've always had the feeling that nothing is impossible if one applies a certain amount of energy in the right direction. If you want to do it, you can do it.” - Nellie Bly (Foto: Christine Leitner)

Verrückt spielen für den Ruhm: Mit ihrer Reportage über die Irrenanstalt Blackwell’s Island wurde Nellie Bly über Nacht zu Star-Reporterin – und zu einer Marke, aus der Männer Profit schlugen.

Die Augen geradeaus gerichtet, die Haare modisch zu einer Hochsteckfrisur geformt, der spitzenbesetzte Kragen hochgeschlossen und manierlich mit einer Brosche zusammengehalten: Nellie Bly ist eine moderne Frau – single, selbstständig und erfolgreich. So skizziert sie der italienische Autor Nicola Attadio in der neuen und zweiten Biographie der Undercover-Journalistin und Medienikone.

1862 geboren und aufgewachsen in einem armen Elternhaus, liegt der jungen Elizabeth Cochran – spätere Nellie Bly – nichts ferner, als der Medienstar des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu werden. Kirche, Kinder, Küche, das ist der Werdegang, der den Frauen der damaligen Gesellschaft bestimmt ist. Entgegen ihrer gesellschaftlichen Bestimmung, entscheidet sich Elizabeth jedoch in frühen Jahren gegen eine Ehe. Der Gewalt, der ihre Mutter in der zweiten Ehe ausgeliefert ist, möchte die junge Frau entgehen. Die Unabhängigkeit ist ihr Ziel.

Am Anfang stand ein Leserbrief…

Ihr Werdegang gleicht einem Märchen – damals wie heute. In einem Leserbrief kritisiert Elizabeth Cochran einen Artikel des Pittsburgh Dispatch, in dem das Kochen und Bügeln als natürliche weibliche Tätigkeiten gelobt werden. Und wird prompt in die Redaktion eingeladen. Die werten Herren sind beeindruckt von ihrer Schreibe und Scharfzüngigkeit und ehe sich die junge Frau versieht, ist sie angestellt. Ihre Artikel veröffentlicht sie unter dem Pseudonym Nellie Bly. 1887 wird sie in New York im Büro vom damaligen Chefredakteur der New York World, John Cockerill, vorstellig. Die Arbeit als Undercover-Journalistin fliegt ihr unerwartet zu. Doch Bly ist und bleibt eine Frau und damit auf sich gestellt in einer von Männern dominierten Welt.

Das hält die damals 25-Jährige aber nicht davon ab, sich schnell einen Namen in der Medienbranche zu machen. Zur Berühmtheit wird sie mit ihrer Geschichte über die Missstände in der berüchtigten Irrenanstalt Blackwell’s Island. Getarnt als unbekannte Demente schleust sie sich ein und recherchiert dort zehn Tage lang zwischen Eiswasser-Kuren, spinnenverseuchtem Brot und gewalttätigem Personal. Von Blys Reportage profitiert auch die World, die sich nun im Konkurrenzkampf mit den anderen Massenmedien behaupten kann.

In 72 Tagen um die Welt

Die nächste Geschichte zieht Nellie über die Grenzen Amerikas hinaus. 1889 will sie in weniger als 80 Tagen die Welt umreisen – alleine als Frau zu damaliger Zeit eigentlich undenkbar. Das Konkurrenzblatt Cosmopolitan schickt ebenfalls eine Reporterin auf den Weg und die New Yorker Gesellschaft schließt Wetten darüber ab, wer das Rennen gewinnt. Ein richtiges Medienevent. Nach 72 Tagen kehrt Bly nach New York zurück und wird dort von ihrem Publikum empfangen. Sie hat nicht nur den Wettkampf gewonnen, sondern auch der World einen traumhaften Umsatz beschert. Mit einer Lohnerhöhung oder gar einer Beförderung darf Bly als Frau jedoch nicht rechnen. Ein Grund, sich langsam aus dem Nachrichtengeschäft zurückzuziehen.

Entgegen ihrem Vorsatz, nie zu heiraten, wird sie die Frau des vierzig Jahre älteren Stahlmillionärs, der sie erst in der Vorstand seines Unternehmens erhebt und dann zur Witwe macht. Als das Imperium zusammenbricht, reist Bly zurück nach Europa. Vier Jahre lang berichtet sie als eine von vier amerikanische Journalisten – und wieder einmal als einzige Frau – an der Ostfront vom Grauen des Ersten Weltkriegs. 1922 stirbt Bly schließlich an einer Lungenentzündung.

Die traurige Story der starken Frau

Nellie Blys Geschichte liefert die perfekte Vorlage für ein Drehbuch. Dabei gibt es kaum Bücher über sie. Abgesehen von ihren Reportagen, Berichten, einer englischsprachigen Biographie von Iris Noble, die 1955 erschien, und einigen Erwähnungen in Romanen ist von der rasenden Reporterin nicht viel übriggeblieben.

Nicola Attadios Publikation ist eine Neuheit und dem Zeitgeist entsprechend. Gefeiert wird eine alleinstehende, mutige Persönlichkeit, die sich an die Spitze des Journalismus schreibt – als Frau! In der Tat sind Blys Reportagen herausragend. Dass der männlich dominierte Journalismus Frauen dadurch als Strategie nutzte, um den Umsatz zu steigern, enthält Attadio seiner Leserschaft vor. Zwar beschreibt er die damaligen Lebensumstände und Arbeitsverhältnisse, die Marketingmaschinerie bleibt dennoch unbeachtet. Dabei wäre gerade dieser Kontext von Bedeutung gewesen, um den Journalismus damals sowie heute besser zu verstehen.

Dazu kommt, dass der Autor spärlich mit seinen Quellen umgeht. Dabei hätte man als Leserin und Leser doch gern gewusst, wo der Autor seine Zitate hernimmt. Unklar ist auch, ob es sich bei manchen Textpassagen nicht doch um Auszüge aus Tagebüchern der Journalistin handelt. Dass es keine vergleichbaren Schriftstücke Blys gibt, weiß man als Laie nicht unbedingt. Der Autor hätte deshalb in seinen Beschreibungen klarer sein können.

Trotz allem bereitet Attadios Lektüre ein kurzweiliges Lesevergnügen: einfach geschrieben, ohne die Leser mit Daten zu überfordern und in einem lockeren und teils poetischen Schreibstil. Sie eignet sich damit für einen entspannten Leseabend oder auch für zwischendurch. Für Laien bietet das Buch einen abwechslungsreichen und kurzweiligen Einblick in die Gesellschaft des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie in den Journalismus. Fortgeschrittene dürfen aber nicht zu viel erwarten. Viel Neues erfährt man nicht. Als kleine Abwechslung für zwischendurch ist das Buch aber sehr gelungen.