Seelsorgeangebote im Netz: Eine ratsame Alternative zur Therapie?

In der Pandemie suchen Menschen mit psychischen Problemen immer häufiger Hilfe im Netz. (Foto: Darina Belonogova/Pexels)

Triggerwarnung: Der folgende Artikel thematisiert psychische Erkrankungen und Suizidgedanken.

Fools Garden sangen es bereits im Jahr 1995: „Isolation is not good for me”. Durch die Corona Pandemie mussten viele junge Menschen das schmerzhaft an Leib und Seele erfahren. Einsamkeit kann zur dauerhaften psychischen Belastung werden. Erste Anlaufstelle für Hilfe ist oft das Internet. Seelsorgeangebote gibt es dort zu genüge – aber was taugen die?

Von Lara Seils und Jelka Weyland

Meist sei es ein Donnerstag, an dem er morgens seinen Computer einschaltet, erzählt Dr. Martin Jussen. Der Mann trägt eine randlose Brille. Die Wand an der Rückseite seines Büros wird von einem großen Bücherregal eingenommen. Jussen ist 66 Jahre alt und pensionierter Sonderschulrektor. Er ist nunmehr seit fünf Jahren als ehrenamtlicher Mitarbeiter bei der Telefonseelsorge tätig. Seit rund eineinhalb Jahren bietet er Hilfesuchenden seinen Rat auch per Mail an. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist er allerdings noch Neuling in der Mailberatung. Dennoch erkennt er bereits Unterschiede zwischen den Mails und seinen Gesprächen am Telefon: „Die Mails sind ‚härter‘ und gehen häufig richtig ins Mark. Oft werden auch Selbstmordgedanken angedeutet. Vielleicht deswegen, weil es leichter zu schreiben ist, als es auszusprechen.“

Psychische Belastung bei Studierenden gestiegen

Seit Beginn der Corona Pandemie wenden sich vermehrt Ratsuchende an Jussen und seine Kolleg:innen der Telefonseelsorge. „Wir haben auf allen Kanälen – Telefon, Mail und Chat – sehr viel mehr Zulauf als sonst“, erzählt Rüdiger Kreß, Freiwilligen-Manager der Telefonseelsorge Düsseldorf. Diesen Trend erkennt auch Diplom-Psychologin Julia Scharnhorst: „Das sehen wir schon, dass sowas wie Stressbelastung, Ängste, Depressionen im Moment schon deutlich zu steigen scheinen.“  Auch wenn die psychischen Belastungen durch die Pandemie in der Öffentlichkeit thematisiert wurden, fanden speziell die Probleme Studierender wenig Beachtung. Doch seit einiger Zeit rücken sie stärker in den medialen Fokus. Eine bundesweite Studierendenbefragung des freien zusammenschluss von student*innenschaften (fzs) e. V. beschäftigt sich mit der psychischen Belastung im Studium. Demnach gaben 60 Prozent der Befragten an, dass diese im Vergleich zum vergangenen Semester gestiegen sei. Neben einem eingeschränkten Campusleben waren auch private Treffen, Sportangebote und weitere Möglichkeiten zum Ausgleich über einen langen Zeitraum nicht möglich. Seelsorgeplattformen können besonders als virtuelle Orte des sozialen Austausches nützlich sein, beurteilt Julia Scharnhorst. „Jetzt in Corona-Zeiten kann es hilfreich sein, einfach Gespräche zu führen. Soziale Kontakte zu haben ist sowohl psychisch als auch körperlich ein heilsamer Faktor.“

Genau darauf basiert auch das Angebot der Telefonseelsorge. Ehrenamtliche wie Jussen haben ein offenes Ohr für Ängste und Sorgen aller Art. Die Themen gehen dabei von Beziehungsproblemen über Einsamkeit bis hin zu Selbstverletzung oder Missbrauch. Die telefonische Beratung macht Jussen von einem Büro in der Düsseldorfer Innenstadt aus. Die E-Mails hingegen beantwortet er zu Hause. Neben ihm auf dem Schreibtisch steht dann oft ein Teller mit Kuchen. Als erstes melde er sich im Intranet der Telefonseelsorge an, beschreibt Jussen seinen typischen Arbeitsablauf. Die Antworten von Ratsuchenden, mit denen er bereits Kontakt hatte, werden ihm direkt angezeigt. Anfragen von Hilfesuchenden, die sich das erste Mal an die Telefonseelsorge wenden, landen in einem gemeinsamen Pool. Daraus wird Jussen eine Mail automatisch zugewiesen. Worum es gehen wird, weiß er vorher nicht. Nachdem er die Nachricht gelesen hat, verfasst er
einen Text. Diesen schickt er aber nicht sofort zurück, sondern druckt
ihn erst einmal aus. Manchmal wache er auch nachts auf und feile an seinem Text, erzählt er. Innerhalb von zwei bis drei Tagen bekommen die Ratsuchenden dann eine Antwort.

Auf Transparenz und Datenschutz achten

Eine andere Anlaufstelle bietet der Kummerkasten Chat von Timo Lübke. Hier können sich Nutzer:innen untereinander austauschen oder einfach Zeit zusammen verbringen. „Die User wollen keine Mail schreiben und warten, dass da etwas zurückkommt. Sie wollen einfach 24 Stunden das Gefühl haben, dass da ein Ort ist, wo sie jederzeit hingehen können und wo ihnen jemand zuhört, auch wenn das gerade kein Professioneller ist.“ Laut Diplom-Psychologin Julia Scharnhorst können solche Angebote ähnlich wie Selbsthilfegruppen wirken: „Es vermittelt das Gefühl, nicht allein mit seinen Problemen zu sein. Eventuelle Moderatoren sollten darauf achten, dass sich niemand zu sehr outet, je nachdem wie anonym der Raum ist, oder darauf, dass ethische Grundsätze eingehalten werden.“ Dass Gespräche in seinem Chat eskalieren, hat Lübke bereits erlebt. Bei Themen wie Suizid oder Gewalt habe er in akuten Fällen auch schon die Polizei alarmiert. Dafür werde die IP-Adresse des entsprechenden Nutzers oder der Nutzerin erfasst.

Laut Scharnhorst ist die Transparenz besonders in Bezug auf Datensicherheit ein wichtiges Kriterium für die Bewertung von Online-Seelsorgeangeboten: „Hinweise auf Gefahren, Datenschutz und Qualifikation (der Beratenden, Anmerkung der Redaktion) müssen sehr deutlich positioniert und sofort ersichtlich sein.“ Auch Ulrich Kühn, stellvertretender Hamburgischer Datenschutzbeauftragter, betont die Wichtigkeit der Datensicherheit. Sensible Informationen, welche die psychische Gesundheit betreffen, stünden laut Artikel 9 der Datenschutzgrundverordnung unter besonderem Schutz. „Vertraulichkeit, kurze oder keine Speicherung der Daten, Möglichkeit der anonymen Nutzung, sichere technische Übertragung und Speicherung“ seien Kriterien, die Seelsorgeplattformen erfüllen sollten. Für den Laien sei dies allerdings schwer zu erkennen, so Kühn.

Ein weiteres Problem sieht Scharnhorst in der mangelnden professionellen Ausbildung der Berater:innen: „Im schlimmsten Fall kann es dann zu Suiziden kommen oder Erkrankungen verschlimmern oder chronifizieren sich.“ Oft seien die ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen lediglich in Gesprächsführung geschult. Bei den Angeboten der Telefonseelsorge funktioniere das aber relativ gut, so die Psychologin. Die Ausbildung dort dauere ein Jahr, erzählt Rüdiger Kreß von der Telefonseelsorge Düsseldorf: „Dabei geht es zunächst um eine gute Mischung aus Selbsterfahrungen aus dem eigenen Leben der Berater:innen und ihrem Umgang mit Krisen sowie deren Bewältigung. Das versuchen wir danach in einer Gesprächsführungsform umzusetzen, die dann den individuellen Stil des Seelsorgers ausmacht.“ In einem dritten Schritt gehe es um häufig vorkommende Themen und den Umgang damit.“ Wer wie Martin Jussen per Mail oder Chat beraten möchte, muss eine Zusatzschulung anhängen. Dabei hat der Ehrenamtler zufällig einen alten Bekannten wieder getroffen, erzählt er. Für seine ersten Mailkontakte bekam er einen Mentor zur Seite gestellt, um mit ihm gemeinsam die Antworten zu besprechen. „Das war ein ehemaliger Hochschullehrer von mir. Das hat mich sehr gerührt“, erzählt der 66-Jährige.

Beratungsgespräche können Gewinn für beide Seiten sein

Ähnlich lief die Schulung auch für Karin Ott ab. Sie arbeitet ehrenamtlich als Autorin für das Sorgen-Tagebuch. Wie in einem Tagebuch können die Nutzer:innen hier ihre Sorgen aufschreiben. Auf Wunsch bekommen sie von Frau Ott und weiteren Freiwilligen eine Antwort. Vor ihrem Einstieg musste die 44-Jährige zunächst drei fiktive Fälle bearbeiten. Danach bekam auch sie einen Paten zugeteilt. Der unterstützte sie bei der Bearbeitung der ersten zehn Einträge: „Immer, wenn ich eine Antwort geschrieben hatte, habe ich die zuerst ihm geschickt und er hat mir darauf Feedback gegeben. Erst dann konnte ich sie an den Nutzer oder die Nutzerin schicken.“ In einem zweitägigen Einführungsseminar wird den Autor:innen des Sorgen-Tagebuchs der Umgang mit häufig genannten Problemen nähergebracht, erzählt Gründer Daniel Kemen. Dafür ziehe er auch Fachleute heran. In den Einführungsveranstaltungen gehe es zudem grundsätzlich um das Schreiben, aber auch um den Rahmen der Plattform, also die Frage: „Was darf ich und was kann ich nicht“, sagt Kemen.

Menschen, die selbst Hilfe suchen, empfiehlt Psychologin Scharnhorst: „Man sollte versuchen herauszufinden welche Qualifikation und welche Ausbildung die Berater haben. Sind das Psychologinnen oder Psychologen oder in irgendeiner Weise geschulte Berater:innen?“

Durch die Heterogenität der vielen Plattformen und die teilweise fehlende Transparenz ist das nicht immer leicht. Auf der Suche nach dem geeigneten Hilfsangebot sollte man drei Aspekte besonders beachten: Vertraulichkeit, Datenschutz und Professionalität der Beratenden. Das sollte auf der jeweiligen Webseite thematisiert und entsprechende Maßnahmen dargestellt werden. Ist das gewährleistet, können die Gespräche für beide Seiten ein Gewinn sein. Durch die Kontakte in der Mailseelsorge komme er selbst oft ins Grübeln, erzählt Martin Jussen. Auch wenn Online-Seelsorgeplattformen niedrigschwellig und kostenfrei sind, kann der erste Schritt oft schwerfallen. Das bedenkt auch Jussen bei seiner ersten Antwort: „Ich schreibe dann etwas wie: Das ist aber mutig von Ihnen, dass Sie sich melden und ich möchte Sie gerne unterstützen.“

Anlaufstellen für Betroffene:
Die Psychologische Beratung der Universität Hamburg bietet Termine zur Einzelberatung an, zu der du dich online anmelden kannst.

Montags von 11 bis 12 Uhr findet außerdem eine offene Sprechstunde statt, in welcher ohne Anmeldung ein kurzes telefonisches Beratungsgespräch geführt werden kann: 040 42838 8916.